Symposion zum 100. Geburtstag von Karl Christ

Verleihung des Karl-Christ-Preises für Alte Geschichte 2023 mit Symposion zum 100. Geburtstag von Karl Christ

Organisatoren
Stefan Rebenich, Universität Bern; Hartmut Leppin, Universität Frankfurt am Main
Veranstaltungsort
Goethe-Universität Frankfurt am Main
PLZ
60629
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
31.03.2023 - 01.04.2023
Von
Alexander Thies, Historisches Institut, Universität Bern

Seit nunmehr zehn Jahren zeichnet der Karl-Christ-Preis herausragende wissenschaftliche Leistungen auf dem Gebiet der Alten Geschichte und ihrer Nachbardisziplinen sowie der Wissenschafts- und Rezeptionsgeschichte des Altertums aus. In diesem Jahr wurde mit der Wiener Byzantinistin Claudia Rapp erstmals eine Vertreterin einer Nachbardisziplin der Alten Geschichte geehrt. Die Preisverleihung wurde mit einem von Hartmut Leppin und Stefan Rebenich organisierten wissenschaftsgeschichtlichen Symposion verbunden, das an Karl Christ erinnerte, der am 6. April 2023 einhundert Jahre alt geworden wäre. Die Tagung war die erste wissenschaftliche Würdigung von Leben und Werk des großen Marburger Althistorikers, nachdem das eigentliche Festkolloquium zu dessen 85. Geburtstag im April 2008 aufgrund seines Todes kurzfristig in ein Gedenkkolloquium umgewidmet werden musste.1 Schwerpunkte der diesjährigen Berner Tagung waren Christs Biographie, seine althistorischen und seine wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten sowie seine internationale Rezeption.

Die erste Sektion widmete sich Christs wissenschaftshistorischen Studien, die die Wissenschaftsgeschichte der Alten Geschichte im deutschsprachigen Raum als Forschungsgegenstand etablierten.2 Zunächst untersuchte LENA-SOPHIE MARGELISCH (Bern) Christs intensive Beschäftigung mit Theodor Mommsen. Sie konnte zeigen, dass einerseits Mommsen in Christs eigenen Werken immer wieder als die zentrale Autorität der althistorischen Forschung angeführt wird, andererseits Mommsen als Person und Forscher für Christ vor allem in dessen „Römischer Geschichte“ zutage tritt. Die Referentin führte aus, dass Christ drei große Leitmotive bei Mommsen erkannt habe, um Geschichte zu schreiben: Aktualisierung, Politisierung und Apologetik. Mommsen habe für Christ im steten Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik gestanden, was geradezu paradigmatisch in seinem historiographischen Frühwerk erkennbar sei, das 1902 durch den Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Im Anschluss daran formulierte der 2013 selbst mit dem Karl-Christ-Preis ausgezeichnete Historiker WILFRIED NIPPEL (Berlin) ein eher kritisches Bild von Christs methodischer Bearbeitung seiner für das Fach bedeutsamen Forscherbiographien. So charakterisierte er die Personenzentrierung als Schwachpunkt von Christs Arbeiten. Vor allen an den Beispielen von Barthold Niebuhr und Theodor Mommsen zeigte er, dass Christ die Forscher zeithistorisch kontextualisierte und ideologiekritisch annotierte, aber eine vertiefte Würdigung von deren Arbeiten vor dem Hintergrund der zeitgenössischen altertumswissenschaftlichen Forschung unterblieb. Zudem habe Christ weitgehend die für Niebuhr und Mommsen wichtige, aber von ihnen marginalisierte antiquarische Forschung der Zeit seit der Renaissance übersehen und damit das historistische Fortschrittsparadigma fortgeschrieben.

Der internationalen Rezeption Karl Christs war die zweite Sektion gewidmet. ARNALDO MARCONE (Rom), der Christs Korrespondenz mit Arnaldo Momigliano von 1966 bis 1986 auswertete, konnte demonstrieren, wie deren Freundschaft und intellektueller Austausch zu Christs Popularität in der italienischen Forschung erheblich beitrugen, zumal beide ähnliche fachliche Interessen hatten und die Wissenschaftsgeschichte in ihre Forschungen einbezogen. Durch Christs enge Kooperation mit Momigliano, zu dem auf italienischer Seite in späteren Jahren auch Emilio Gabba trat, konnten mehrere deutsch-italienische Tagungen zur Erforschung der beiderseitigen Wissenschaftsgeschichte in den 1970er- und 1980er-Jahren stattfinden. Die weitere Rezeption Christs im Ausland, vor allem in England und Frankreich, untersuchte dann TANJA ITGENSHORST (Freiburg i. Üe.) anhand von zeitgenössischen Übersetzungen und Rezensionen seiner monographischen Hauptwerke, da heutige Forscher:innen in beiden Ländern – nach einer selbstverständlich nicht repräsentativen Umfrage – eher wenig oder gar nichts mit Christ anfangen können. Sie legte dar, dass ausländische Rezensent:innen sich häufig kritisch gegenüber Christs Monographien geäußert hätten; viele störten sich daran, dass Christ häufig nicht Stellung in Forschungskontroversen beziehen würde. Seine Bücher wurden daher eher als einführende Überblicke, denn als relevante Literatur für die Forschung wahrgenommen. Die Referentin betonte jedoch, dass diese Perzeption möglicherweise auf einem Missverständnis beruhen könnte: Christs Bücher waren eher als konzise Synthesen, denn als thesenreiche Monographien konzipiert.
Den ersten Tag abschließend, widmete sich STEFAN REBENICH (Bern) der Biographie Karl Christs, welche er aus verschiedenen Archiven, mehreren Briefwechseln und einer für die eigene Familie verfassten, autobiographischen Skizze, dem „Lebensmosaik“, rekonstruierte. Insbesondere letzteres bietet Einblicke in Christs Jugendzeit und seine akademische Ausbildung, vor allem aber in die Zeit des Zweiten Weltkrieges und der sich anschließenden russischen Kriegsgefangenschaft, welche der Referent als existenzielle Lebenserfahrung für Christ charakterisierte, über die er jedoch nach Kriegsende wie viele seiner Altersgenossen nicht sprechen konnte. Den Weg in die wissenschaftliche Laufbahn ebnete dem sozialen Aufsteiger dann der Tübinger Althistoriker Joseph Vogt, mit dem sich Christ in späteren Jahren jedoch wegen seiner wissenschaftsgeschichtlichen Forschungen überwarf. Sein Interesse an der Wissenschaftsgeschichte wurde, folgt man dem „Lebensmosaik“, nach 1968 aus einer apologetischen Haltung heraus gespeist: Christ wollte das vielerorts in Frage gestellte Fach durch das Studium der „großen Forscher“ und ihrer Leistungen verteidigen. Schließlich wies der Referent darauf hin, dass gerade Jacob Burckhardts wirkmächtiges Modell einer Kulturgeschichte wegweisend für Christs Verständnis einer kulturhistorisch ausgerichteten Wissenschaftsgeschichte gewesen sei.

Der folgende Tag widmete sich ganz dem althistorischen Werk von Christ in zwei Sektionen. Zunächst analysierte HARTMUT LEPPIN (Frankfurt) Christs einflussreiche Monographie über „Krise und Untergang der römischen Republik“.3 Dabei hielt er vor allem gleich mehrere Besonderheiten fest: Einerseits verwahre sich Christ gegen allzu moderne Deutungen oder Theorieangebote. Eine Ausnahme davon stelle allein die marxistische Theorie dar, deren Ansätze – wenn auch als ungeeignet charakterisiert – Christ regelmäßig diskutiere, was sich wohl aus Christs Dialogbereitschaft mit den Studierenden in Marburg erklären lasse, die stark von marxistischen Auffassungen geprägt waren. Gleichzeitig sei das Buch einem Dilemma unterworfen: Obwohl es Christ eigentlich um eine kontextualisierende Strukturgeschichte gegangen sei, habe er ein sichtbares Interesse an der Darstellung „großer Männer“ gehegt, die in dem Buch eine prominente Rolle spielten. Das Buch sollte demnach nicht als großer, thesenstarker Wurf, sondern eher als übersichtliche und reflektierte Synthese betrachtet werden. CHRISTIANE KUNST (Osnabrück) untersuchte daraufhin die „Geschichte der römischen Kaiserzeit“ unter einer geschlechtsspezifischen Fragestellung:4 Wie und in welche narrativen Kontexte eingebunden, findet die Darstellung der Frauen in dieser großen Darstellung statt? Dabei würdigte sie einerseits Christs konsequente Einbeziehung der Frauen – und vor allem der Herrscherfrauen – als historische Subjekte in die Analyse der römischen Kaiserzeit, womit er sich von vielen seiner deutschsprachigen Vorgänger unterschieden habe; seine Ausführungen spiegelten zum Teil aktuelle Debatten der 1970er- und 1980er-Jahre wie im Übrigen auch sein Interesse am historischen Materialismus und der Alltagsgeschichte. Andererseits habe Christ das Auftreten von Frauen im Wesentlichen auf drei Bereiche reduziert: Körperlichkeit/Sexualität, Luxus und Religion, womit er misogyn-patriarchalische Diskurse, wie sie bereits Tacitus verwendet hatte, ungebrochen fortgeführt und Impulse der frauengeschichtlichen Forschung seiner Zeit nicht aufgegriffen habe.

Die letzte Sektion begann mit einem Vortrag von OMAR EL MANFALOUTY (Zürich), der fragte, inwiefern Karl Christs Herangehensweise als Wissenschaftshistoriker mit den Arbeiten des jüdischen Historiographen Flavius Josephus parallelisiert werden könne. Er argumentierte, dass letzterer als geradezu idealtypischer Vertreter einer Historiographie aus dem Exil betrachtet werden müsse, der sich von den Motiven und Modellen der klassisch-griechischen Geschichtsschreibung losgesagt und sich an der römisch-senatorischen Historiographie orientiert habe; Flavius Josephus sei von der Veränderlichkeit der Zeiten ausgegangen und habe daher das Geschehen historisch-periodisierend dargestellt. Der Referent plädierte dafür, Josephus – genauso wie Karl Christ – als „Verdrängten“ zu verstehen, die beide durch einen verlorenen Krieg einen schwerwiegenden Verlust erfahren hätten; beide – Christ wie Josephus – hätten diese Erfahrung als historiographische Chance begriffen. Mit den numismatischen Publikationen Christs, einem häufig wenig beachteten Teil seines wissenschaftlichen Œuvres, befasste sich dagegen HELMUTH SCHNEIDER (Kassel). Er legte dar, wie Christ aktiv in den Zirkel um Konrad Kraft eingebunden war, welcher eine geldgeschichtlich ausgerichtete Numismatik in Deutschland in den 1950er und 1960er Jahren aufgebaut hatte. Christ widmete sich vor allem den römischen Fundmünzen in Deutschland und verband die Publikation des Materials mit historischen Analysen; darüber hinaus schrieb er kleinere Arbeiten zur griechischen Münzkunde, den antiken Siegesprägungen und legte eine gelungene Einführung zur antiken Numismatik vor.5 Wie der Referent jedoch betonte, befasste sich Christ nur gezwungenermaßen mit der Numismatik, weil diese Arbeit ihm zeitweise sein finanzielles Überleben sicherte. Vielleicht liegt hierin der Grund, dass er zum Thema der Geldgeschichte in seinen späteren Werken zwar Bezug nahm, aber keine Numismatik mehr betrieb.

An UWE WALTER (Bielefeld) war es schlussendlich, ein Resümee des Behandelten zu ziehen. Dieses verband er geschickt mit seiner eigenen Wahrnehmung der Person und des Forschers Karl Christ. Die Abkehr Christs von der Numismatik interpretierte der Referent mit einer Tendenz, sich an ein breiteres Publikum richten zu wollen, was in der Spezialdisziplin nicht möglich gewesen sei. Aus dem konstanten Bestreben heraus, die Althistorie „lebendig halten“ zu wollen, erklärte er Christs sachlich-konventionellen Monographien, die zwar auf einem breiten Quellenfundament beruhten, aber keine großen theoretischen Reflexionen anstellten. Christ habe aber durch seine wissenschaftshistorischen, insbesondere biographischen Arbeiten die verschiedenen Althistoriker nicht nur einem breiteren Publikum bekannt gemacht, sondern gewissermaßen selbst dazu beigetragen, einen althistorischen Kanon zu etablieren. Für Walter machte Christ folgende Annahmen: Er ging von der Autonomie der charakterisierten Forscher aus und untersuchte den Einfluss von zeitgenössischen politischen und kulturellen Strömungen wie auch von fachfremden Traditionen auf das Werk. Darüber hinaus identifizierte der Referent zwei Gebiete, die zukünftig noch weitere Forschungen verdienten: Christs Bemühungen um die Vermittlung der Altertumskunde in der Schule und seine außerwissenschaftlichen Netzwerke, wie beispielsweise zu den Verlagen.6 Auf diese Weise könnte so das Bild der Person und des Forschers Karl Christ in Zukunft noch stärker konturiert werden.

Konferenzübersicht:

Sektion I: Wissenschaftsgeschichte der Alten Geschichte

Lena-Sophie Margelisch (Bern): Karl Christ und Theodor Mommsen

Wilfried Nippel (Berlin): Der Wissenschaftshistoriker Karl Christ

Sektion II: Internationale Rezeption

Arnaldo Marcone (Rom): Karl Christ und Arnaldo Momigliano. Die Begegnung zweier Historiker

Tanja Itgenshorst (Freiburg i. Üe.): Karl Christ in England und Frankreich. Eine Spurensuche zu seiner internationalen Rezeption

Sektion III: Zur Biographie

Stefan Rebenich (Bern): Karl Christ in seiner Zeit

Sektion IV: Das althistorische Werk I

Hartmut Leppin (Frankfurt a.M.): Krise und Untergang der Römischen Republik: Zwischen Personalisierung und struktureller Analyse

Christiane Kunst (Osnabrück): Die „Geschichte der Römischen Kaiserzeit“ wieder gelesen

Sektion V: Das althistorische Werk II

Omar el Manfalouty (Zürich): Der Verdrängte – Karl Christ und Flavius Josephus als Historiker zwischen Essenz und Existenz

Helmuth Schneider (Kassel): Münzen, Geld und die antike Gesellschaft bei Karl Christ

Resümee
Uwe Walter (Bielefeld): Zusammenfassung und abschließende Diskussion

Verleihung des Karl-Christ-Preises 2023
Claudia Rapp (Wien): Christentum und Elitekultur von der Spätantike bis Byzanz

Anmerkungen:
1 Aus dem Kolloquium ging folgender Sammelband hervor: Volker Losemann (Hrsg.), Alte Geschichte zwischen Wissenschaft und Politik. Gedenkschrift für Karl Christ, Wiesbaden 2009.
2 Vgl. als Hauptwerke: Karl Christ, Von Gibbon zu Rostovtzeff. Leben und Werk führender Althistoriker der Neuzeit, Darmstadt 1972 (3. Auflage 1989); ders., Römische Geschichte und deutsche Geschichtswissenschaft, München 1982; ders., Römische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte. Bd. 3., Darmstadt 1983; ders. Neue Profile der Alten Geschichte, Darmstadt 1990; ders., Griechische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart 1996; ders., Klios Wandlungen. Die deutsche Althistorie vom Neuhumanismus bis zur Gegenwart, München 2006; ders., Der andere Stauffenberg. Der Historiker und Dichter Alexander von Stauffenberg, München 2008.
3 Karl Christ, Krise und Untergang der römischen Republik, Darmstadt 1979 (8. Auflage 2013).
4 Karl Christ, Geschichte der römischen Kaiserzeit. Von Augustus bis zu Konstantin, München 1988 (6. Auflage 2009).
5 Vgl. Karl Christ, Antike Münzfunde Südwestdeutschlands. Münzfunde, Geldwirtschaft und Geschichte im Raume Baden-Württembergs von keltischer bis in alamannische Zeit (=Vestigia. Beiträge zur Alten Geschichte. Bd. 3, 1–2, Bd. 1: Untersuchung. Bd. 2/5: Anmerkungen, Tabellen, Karten, Diagramme und Tafeln), Heidelberg 1960; ders., Die Fundmünzen der römischen Zeit in Deutschland, Abt. 2: Baden-Württemberg, Berlin 1963/1964; ders., Historische Probleme der griechisch-sizilischen Numismatik, in: Historia 3 (4), 1955, S. 385–395; ders., Zur Chronologie der syrakusanischen Münzprägung des 4. Jahrhunderts v.Chr., in: JNG 8, 1957, S. 21–29; ders., Antike Siegesprägungen, in: Gymnasium 64 (6), 1957, S. 504–532; ders., Die Griechen und das Geld, in: Saeculum 15, 1964, S. 214–229; ders., Antike Numismatik. Einführung und Bibliographie, Darmstadt 1967 (3. unveränderte Auflage 1991).
6 Zu Christs Beziehungen zum Verlag C.H. Beck vgl. Stefan Rebenich, C. H. Beck. 1763–2013. Der kulturwissenschaftliche Verlag und seine Geschichte, München 2013, S. 633–639.

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